1992 Der Wundertäter ohne Wunder
Der Wundertäter – wir wissen es von Daniil Charms („Die alte
Frau“, in „Fallen“, Haffmans Verlag, Zürich 1985; Seite 159) – hat in seinem
Leben kein einziges Wunder vollbracht (S 162). Er bräuchte nur mit dem Finger schnipsen, aber er tut es nicht. Dass er „von hohem Wuchs“ ist (S
164), kann ich allerdings nicht bestätigen.
Aber da der Wundertäter kein einziges Wunder tut, war er im
Alter – auf mitteleuropäische Verhältnisse bezogen – nicht gerade reich. Für
einen Zeitgenossen war er seiner Zeit und ihren technischen Möglichkeiten
hinten nach, aber als dennoch leidlich moderner Wundertäter benutzte er auch
Internet und als alter Mann Facebook. Dort hat er herumgejammert, dass er nur
400 € Pension im Monat bekomme, davon eine Therapie wegen Depression
teilfinanzieren müsse und sich nichts leisten könne. Dabei lebt er von seiner
Frau, die noch immer unerschütterlich an sein wundertätiges Potenzial glaubt.
Jedenfalls rührte der Wundertäter mit seinen
mitleidserheischenden Postings das Herz einer ihm unbekannten, sozial
engagierten Frau, nennen wir sie B.W., die ihm zwei Freikarten zu einer
Charity-Veranstaltung des Vereins „Künstler und Kinder helfen Kindern“ für ihn
und seine Frau schenkte. So weit so gut.
Der Wundertäter, da er seiner Berufung, Wunder zu
vollbringen, nicht nach kam, besonders leicht zu verunsichern, wurde zunehmend
nervös. Er hatte jetzt ein schlechtes Gewissen wegen dieser Einladung – ob er
dieses Geschenkes wohl würdig sei – und das schlechte Gefühl, sich diese Karten
durch übertriebenes Jammern erschlichen zu haben. Er fühlte sich bemüßigt,
wieder zurück zu rudern, aber Frau B.W. blieb bei der Einladung.
„Charity-Veranstaltung“, dachte er, „ich schaue im Internet
nach.“ „Aha! Eine Matinee mit verschiedenen KabarettistInnen zugunsten von
Kindern in Armut oder schwierigen Verhältnissen!“ Vor dem inneren Auge des
Wundertäters entstand immer mehr das Bild eine High-Society-Veranstaltung unter
lauter Reichen und Upperclassikern. Und so fühlte er sich immer unwohler. „Ich
werde im Internet recherchieren, wer Frau B.W. ist“, sagte er sich und im
Gegensatz zu seinen Wundern tut er es einfach.
„Oh Gott!“ sagte er sich, „Frau B.W.! Zwanzig Universitäten,
fünfzehn Lehraufträge dort und da und dort auch noch, zehn Firmengründungen und
fünf Firmen - noch dazu Bergführerin und Bergführerinnen-Ausbildnerin,
Leistungssportlerin in den Disziplinen X,Y und Z, bildet auch PädagogInnen aus – das
passt ja zur Kindercharity! … Nein! Nein! Nein! Wie werde ich da neben stehen,
als Wundertäter, der nie seinen Beruf ausgeübt hat! Als Nichts! Als
gescheiterte Existenz! Als Unsportler! Als, als als ...ich fürchte mich! Ich
habe Angst! Das kann nur schief gehen!“
Der Wundertäter fängt an, sich um seine Kleidung Sorgen zu
machen. Er entschließt bei sich, zur Veranstaltung seinen dunklen Anzug aus
besseren Zeiten anzuziehen, obwohl er sich vage erinnert, irgendwo gelesen zu
haben, am Tage trage man helle Anzüge, dunkle nur am Abend. Zwar besitzt er
einen hellen Sommeranzug, aber die Schweißränder am Kragen, die auch die
Putzerei nicht mehr raus gebracht hat! Nein, das kann er auf so einem
High-Society-Charity-Event am späten Vormittag nicht bringen!
Nochmals sucht der Wundertäter im Internet nach
Informationen über Frau B.W.: „Ja, sie muß sozial und gesellschaftlich ganz
oben angesiedelt sein. Gut, ihre Einladung hat ganz normal, unkompliziert und
freundlich geklungen ...“
Der Wundertäter schaut alle Fotos, die er von Frau B.W. finden kann, an, damit die vereinbarte persönlich Übergabe der Freikarten
klappt. In seiner Aufregung kann er sich das Gesicht kaum merken, nur „blonde
Haare“ prägt sich ein.
Der Tag rückt näher. Der Sonntag Morgen ist da. Die
Kartenübergabe ist für 9:30 vereinbart, Einlass ab 9:45, Beginn der Matinee
11h.
„Mein Gott! Was wird dort passieren! Ich werde unter den
Reichen und Highsocieties auffallen wie ein bunter Hund. Diese Leute werden
meinen alten Anzug sofort durchschauen! Ich werde nackt dastehen, so ohne
Renommee, ohne Geld, ohne sozialen Status, ohne Verdienstkreuz und ohne Orden!
Was für ein Stress! Ich werde es dort kaum aushalten.“
Der Wecker läutet. Vor lauter Angst hat ihn der Wundertäter
- er bräuchte nur mit dem Finger schnipsen … - auf 7 Uhr gestellt, um ja mit
dem Rasieren, Duschen, Ankleiden, den Nervositätsentleerungen rechtzeitig
fertig zu werden. Er jammert seine Frau an: „was habe ich mir da aufgehalst!
Ich scheiß mich voll an! Meine Nerven liegen blank. Viel lieber möchte ich mit
dir gemütlich im Bett bleiben. Was soll das Ganze. Oh ich Idiot! Ich werde nie
wieder auf Facebook jammern!“
So lamentiert der Wundertäter ohne Wunder und steht auf und
startet seine angstverstärkten Morgenrituale. Wir wissen, er bräuchte nur mit
dem Finger schnipsen …
Das Ehepaar Wundertäter beschließt, zu Fuß zur Location in
die Innenstadt zu gehen; der Spaziergang wird beruhigen.
Der Veranstaltungsort heißt „Casanova“ und der Wundertäter
hat so ein Erinnerungsbild vom Eingang mit der Leuchtreklame mit einem Zacken
und darauf ein nacktes Weib. Auch etwas, das ihn am Rande beunruhigt: „was für
eine Location für ein Charity-Event? Nur fragwürdige High-Societealer, Angeber
und Neureiche können sich dort wohl fühlen. Aber bitte! Für einen guten Zweck!“
Weil der Wundertäter das falsche Suchbild eingespeichert
hat, rennen sie am Veranstaltungslokal vorbei, das offensichtlich schon längst
kein windiger Nachtclub mehr ist, sondern unter einem anderen Namen ein
Kaffeehaus und mit einem „Casanova“ genannten Kabarett-Spielort im Keller.
Die Hausnummer hatte der Wundertäter nicht notiert, nur die
Gasse, aber seine taffe Frau mit ihrem Smartphone findet sie heraus. Gerade
noch pünktlich erreichen sie den Hauseingang und warten. Eine blonde Frau steht
auch da und redet mit ihren Leuten von Freikarten. Der Wundertäter zögert:
„Kann sie es sein? Ist sie die Frau B.W.? … Eher nicht. … oder doch?“
Jedenfalls ist sie nicht so aufgetakelt, wie es der Wundertäter erwartet hat.
Überhaupt dämmert ihm allmählich, dass die Veranstaltung viel normaler sein
könnte, als befürchtet. Die Leute am Eingang sind nicht aufgedonnert, tragen
normale Kleidung, Jeans, kurze Hosen …
Die taffe Frau des Wundertäters meint, es könnte mit dem
vereinbarten Treffpunkt „vorm Eingang“ nicht der Eingang zum Gebäude, sondern der Eingang zum „Casanova“ unten im Keller gemeint sein. Der Wundertäter –
hochgradig nervös, ständig mit den Händen am Rücken hin und her, auf und ab,
vor und zurück schreitend – will das nicht glauben. Nach einiger Zeit des
Wartens ist er doch bereit, auf seine Frau zu hören und geht mit ihr hinunter
in den Keller. Mit Maske, wie es sich in Zeiten wie diesen gehört. Dort warten
sie, bis die zwei Besucher vor ihnen abgefertigt sind: Eintragen der Namen in
die Coronaliste, Bekanntgabe der Tischnummer usw. Die Frau, die da am Eingang
die Besucher einlässt, kann nicht Frau B.W. sein, denn sie hat dunkle Haare.
Aber als sie mit den Zweien fertig ist, kommt sie zum Wundertäter, begrüßt ihn
mit dem Ellbogengruß und sagt: „Servus!“ Der Wundertäter – ohne seine Wunder in
der Welt komplett aufgeschmissen – ist völlig verstört und fängt an zu
stottern: „die Frau B.W. hat ...“ Die Frau unterbricht ihn und sagt: „ich bin
B.W.. Wir sind doch eh per du, oder?“ „Jaja“, stammelt der verblüffte
Wundertäter. Denn alles ist normal hier: die Leute normal gekleidet, alles ganz
friedlich, kein sozialer Stress, keine Schnösel, der Wundertäter denkt sich
kurz: „und ich im Anzug!“, aber die Erleichterung ist stärker. Nur die Frau
B.W.! „Bin ich völlig deppert? Sie schaut ganz anders aus als auf den Fotos!“
Nun, der gute Wundertäter hat unter dem richtigen Namen eine andere Frau
recherchiert. Namensgleichheit! Er will schon mit Selbstbezichtigungen
beginnen, aber die Erleichterung ist stärker, und so wurde es doch eine schöne,
wunderbare Matinee mit vielen Tassen bodenlosen Kaffees, Sacherwürstln (ja, mußte
sein), einem tollen Kabarett auf der Bühne und in des Wundertäters Leben (er
und seine Frau haben viel über seine Faux-Pas gelacht) und überhaupt der
Auftakt zu einem wunderschönen Sonntag.
Und definitiv: der Wundertäter ist nicht von hohem Wuchs!
(21.9.2020)
©Peter
Alois Rumpf September 2020 peteraloisrumpf@gmail.com
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