Montag, 21. September 2020

1992 Der Wundertäter ohne Wunder

 

Der Wundertäter – wir wissen es von Daniil Charms („Die alte Frau“, in „Fallen“, Haffmans Verlag, Zürich 1985; Seite 159) – hat in seinem Leben kein einziges Wunder vollbracht (S 162). Er bräuchte nur mit dem Finger schnipsen, aber er tut es nicht. Dass er „von hohem Wuchs“ ist (S 164), kann ich allerdings nicht bestätigen.

Aber da der Wundertäter kein einziges Wunder tut, war er im Alter – auf mitteleuropäische Verhältnisse bezogen – nicht gerade reich. Für einen Zeitgenossen war er seiner Zeit und ihren technischen Möglichkeiten hinten nach, aber als dennoch leidlich moderner Wundertäter benutzte er auch Internet und als alter Mann Facebook. Dort hat er herumgejammert, dass er nur 400 € Pension im Monat bekomme, davon eine Therapie wegen Depression teilfinanzieren müsse und sich nichts leisten könne. Dabei lebt er von seiner Frau, die noch immer unerschütterlich an sein wundertätiges Potenzial glaubt.

Jedenfalls rührte der Wundertäter mit seinen mitleidserheischenden Postings das Herz einer ihm unbekannten, sozial engagierten Frau, nennen wir sie B.W., die ihm zwei Freikarten zu einer Charity-Veranstaltung des Vereins „Künstler und Kinder helfen Kindern“ für ihn und seine Frau schenkte. So weit so gut.

Der Wundertäter, da er seiner Berufung, Wunder zu vollbringen, nicht nach kam, besonders leicht zu verunsichern, wurde zunehmend nervös. Er hatte jetzt ein schlechtes Gewissen wegen dieser Einladung – ob er dieses Geschenkes wohl würdig sei – und das schlechte Gefühl, sich diese Karten durch übertriebenes Jammern erschlichen zu haben. Er fühlte sich bemüßigt, wieder zurück zu rudern, aber Frau B.W. blieb bei der Einladung.

„Charity-Veranstaltung“, dachte er, „ich schaue im Internet nach.“ „Aha! Eine Matinee mit verschiedenen KabarettistInnen zugunsten von Kindern in Armut oder schwierigen Verhältnissen!“ Vor dem inneren Auge des Wundertäters entstand immer mehr das Bild eine High-Society-Veranstaltung unter lauter Reichen und Upperclassikern. Und so fühlte er sich immer unwohler. „Ich werde im Internet recherchieren, wer Frau B.W. ist“, sagte er sich und im Gegensatz zu seinen Wundern tut er es einfach.

„Oh Gott!“ sagte er sich, „Frau B.W.! Zwanzig Universitäten, fünfzehn Lehraufträge dort und da und dort auch noch, zehn Firmengründungen und fünf Firmen - noch dazu Bergführerin und Bergführerinnen-Ausbildnerin, Leistungssportlerin in den Disziplinen X,Y und Z, bildet auch PädagogInnen aus – das passt ja zur Kindercharity! … Nein! Nein! Nein! Wie werde ich da neben stehen, als Wundertäter, der nie seinen Beruf ausgeübt hat! Als Nichts! Als gescheiterte Existenz! Als Unsportler! Als, als als ...ich fürchte mich! Ich habe Angst! Das kann nur schief gehen!“

Der Wundertäter fängt an, sich um seine Kleidung Sorgen zu machen. Er entschließt bei sich, zur Veranstaltung seinen dunklen Anzug aus besseren Zeiten anzuziehen, obwohl er sich vage erinnert, irgendwo gelesen zu haben, am Tage trage man helle Anzüge, dunkle nur am Abend. Zwar besitzt er einen hellen Sommeranzug, aber die Schweißränder am Kragen, die auch die Putzerei nicht mehr raus gebracht hat! Nein, das kann er auf so einem High-Society-Charity-Event am späten Vormittag nicht bringen!

Nochmals sucht der Wundertäter im Internet nach Informationen über Frau B.W.: „Ja, sie muß sozial und gesellschaftlich ganz oben angesiedelt sein. Gut, ihre Einladung hat ganz normal, unkompliziert und freundlich geklungen ...“

Der Wundertäter schaut alle Fotos, die er von Frau B.W. finden kann, an, damit die vereinbarte persönlich Übergabe der Freikarten klappt. In seiner Aufregung kann er sich das Gesicht kaum merken, nur „blonde Haare“ prägt sich ein.

Der Tag rückt näher. Der Sonntag Morgen ist da. Die Kartenübergabe ist für 9:30 vereinbart, Einlass ab 9:45, Beginn der Matinee 11h.

„Mein Gott! Was wird dort passieren! Ich werde unter den Reichen und Highsocieties auffallen wie ein bunter Hund. Diese Leute werden meinen alten Anzug sofort durchschauen! Ich werde nackt dastehen, so ohne Renommee, ohne Geld, ohne sozialen Status, ohne Verdienstkreuz und ohne Orden! Was für ein Stress! Ich werde es dort kaum aushalten.“

Der Wecker läutet. Vor lauter Angst hat ihn der Wundertäter - er bräuchte nur mit dem Finger schnipsen … - auf 7 Uhr gestellt, um ja mit dem Rasieren, Duschen, Ankleiden, den Nervositätsentleerungen rechtzeitig fertig zu werden. Er jammert seine Frau an: „was habe ich mir da aufgehalst! Ich scheiß mich voll an! Meine Nerven liegen blank. Viel lieber möchte ich mit dir gemütlich im Bett bleiben. Was soll das Ganze. Oh ich Idiot! Ich werde nie wieder auf Facebook jammern!“

So lamentiert der Wundertäter ohne Wunder und steht auf und startet seine angstverstärkten Morgenrituale. Wir wissen, er bräuchte nur mit dem Finger schnipsen …

Das Ehepaar Wundertäter beschließt, zu Fuß zur Location in die Innenstadt zu gehen; der Spaziergang wird beruhigen.

Der Veranstaltungsort heißt „Casanova“ und der Wundertäter hat so ein Erinnerungsbild vom Eingang mit der Leuchtreklame mit einem Zacken und darauf ein nacktes Weib. Auch etwas, das ihn am Rande beunruhigt: „was für eine Location für ein Charity-Event? Nur fragwürdige High-Societealer, Angeber und Neureiche können sich dort wohl fühlen. Aber bitte! Für einen guten Zweck!“

Weil der Wundertäter das falsche Suchbild eingespeichert hat, rennen sie am Veranstaltungslokal vorbei, das offensichtlich schon längst kein windiger Nachtclub mehr ist, sondern unter einem anderen Namen ein Kaffeehaus und mit einem „Casanova“ genannten Kabarett-Spielort im Keller.

Die Hausnummer hatte der Wundertäter nicht notiert, nur die Gasse, aber seine taffe Frau mit ihrem Smartphone findet sie heraus. Gerade noch pünktlich erreichen sie den Hauseingang und warten. Eine blonde Frau steht auch da und redet mit ihren Leuten von Freikarten. Der Wundertäter zögert: „Kann sie es sein? Ist sie die Frau B.W.? … Eher nicht. … oder doch?“ Jedenfalls ist sie nicht so aufgetakelt, wie es der Wundertäter erwartet hat. Überhaupt dämmert ihm allmählich, dass die Veranstaltung viel normaler sein könnte, als befürchtet. Die Leute am Eingang sind nicht aufgedonnert, tragen normale Kleidung, Jeans, kurze Hosen …

Die taffe Frau des Wundertäters meint, es könnte mit dem vereinbarten Treffpunkt „vorm Eingang“ nicht der Eingang zum Gebäude, sondern der Eingang zum „Casanova“ unten im Keller gemeint sein. Der Wundertäter – hochgradig nervös, ständig mit den Händen am Rücken hin und her, auf und ab, vor und zurück schreitend – will das nicht glauben. Nach einiger Zeit des Wartens ist er doch bereit, auf seine Frau zu hören und geht mit ihr hinunter in den Keller. Mit Maske, wie es sich in Zeiten wie diesen gehört. Dort warten sie, bis die zwei Besucher vor ihnen abgefertigt sind: Eintragen der Namen in die Coronaliste, Bekanntgabe der Tischnummer usw. Die Frau, die da am Eingang die Besucher einlässt, kann nicht Frau B.W. sein, denn sie hat dunkle Haare. Aber als sie mit den Zweien fertig ist, kommt sie zum Wundertäter, begrüßt ihn mit dem Ellbogengruß und sagt: „Servus!“ Der Wundertäter – ohne seine Wunder in der Welt komplett aufgeschmissen – ist völlig verstört und fängt an zu stottern: „die Frau B.W. hat ...“ Die Frau unterbricht ihn und sagt: „ich bin B.W.. Wir sind doch eh per du, oder?“ „Jaja“, stammelt der verblüffte Wundertäter. Denn alles ist normal hier: die Leute normal gekleidet, alles ganz friedlich, kein sozialer Stress, keine Schnösel, der Wundertäter denkt sich kurz: „und ich im Anzug!“, aber die Erleichterung ist stärker. Nur die Frau B.W.! „Bin ich völlig deppert? Sie schaut ganz anders aus als auf den Fotos!“ Nun, der gute Wundertäter hat unter dem richtigen Namen eine andere Frau recherchiert. Namensgleichheit! Er will schon mit Selbstbezichtigungen beginnen, aber die Erleichterung ist stärker, und so wurde es doch eine schöne, wunderbare Matinee mit vielen Tassen bodenlosen Kaffees, Sacherwürstln (ja, mußte sein), einem tollen Kabarett auf der Bühne und in des Wundertäters Leben (er und seine Frau haben viel über seine Faux-Pas gelacht) und überhaupt der Auftakt zu einem wunderschönen Sonntag.

Und definitiv: der Wundertäter ist nicht von hohem Wuchs!

 

 




(21.9.2020)







©Peter Alois Rumpf   September 2020   peteraloisrumpf@gmail.com

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