3884 Obdachloser Telegraph
10:09 a.m. Eine neue Entdeckung: das Café Telegraph, wirkt flott, nur Zeitungen sehe ich nicht. Aber eine habe ich zufällig mit. Hier gibt es großen und kleinen Cappuccino, und der große ist wirklich groß. Lauter Damen im Service – das ist auch nicht unangenehm. Die Musik aus den Boxen ist wirklich gut (keine Ahnung, wer da spielt und singt). Ich sitze hier auf der Fensterbank so hoch, dass meine Füße nicht den Boden erreichen. Meine Referenzzauberer behaupten, dass man mit dem Verlust des Bodenkontaktes manche psychischen Erkrankungen heilen kann. Ich weiß nicht, ob das hier ausreicht, aber Inschallah! (Übrigens legen die sich zur Heilung auch in Erdsärge - das nur nebenbei.) Ich hatte mir das Lokal ganz anders vorgestellt, so mit Schmähführerchef und Traditionskellner – was für eine positive Überraschung, dass das nicht so ist! Was man hier überdekoriert nennen könnte, ist es nicht und stört mich überhaupt nicht; im Gegenteil: das Ganze kippt nicht, bleibt doch ausbalanciert. Ich habe Hemmungen, die Zeitung aus meinem Rucksack zu nehmen und zu lesen. Warum? Weil das hier nicht üblich zu sein scheint? Vermutlich ist das mehr ein Begegnungsort als ein Leseort. Ich schreib aber trotzdem. Das geht noch. Die Advent/Weihnachtsdekoration blinkt so elegisch; so könnte ich mich hier schon melancholisch einpassen, aber ich fühle mich trotzdem in dieser weiblich dominierten Fröhlichkeit deplatziert. Was mich auch irritiert: die hereinkommenden Gäste warten am Eingang, bis ihnen die Kellnerinnen einen Platz zuweisen, und viele scheinen reserviert zu haben. Und ich bin wie ein primitiver Bauerntölpel, aber nur mit einem halblaut gemurmelten Gruß, hereingekracht und habe mich einfach hingesetzt, zwar am kleinsten Tischchen beim Fensterbankerl – hat auf mich wie ein Einzelplatz (Bluebox läßt grüßen) gewirkt – aber wer weiß! Das scheint eher ein Studentinnenlokal zu sein (wenn die wüßten, dass ich ungefähr in meiner Studentenzeit stecken geblieben bin!). Frühstücken die hier alle? Und ich nur einen Kaffee? Alsergrund 4° C sagt mein Handy, nachdem ich es nach der Temperatur frage. Ich werde schon unruhig: das Lokal wird immer voller und ich bin falsch hier und versitze einen Platz für eine Richtige! Aber ich muß bis 12 Uhr irgendwo Unterschlupf finden, denn meine Frau hat mich wegen einer „Veranstaltung“ daheim bis 15 Uhr aus der Wohnung verbannt (das hat sie dann zwar widerrufen, aber ich lasse mir doch die Möglichkeit zu selbstmitleidigem Gejammer nicht entgehen! Obwohl sie das volle Recht hat, mich aus der Wohnung zu jagen, denn ich zahle keinen Beitrag, null für die hohe Miete; sie ist die Mieterin und finanziert die Wohnung ganz allein. Ich habe mich einfach ins gemachte Nest gesetzt). (Und von 12 bis 15 Uhr habe ich schon ein Asyl in Aussicht.) Naja, sagen wir es so: meine Existenz in dieser Welt ist sehr fragwürdig. Ich kann nur sagen, dass ich meine Frau vor der Hochzeit gewarnt habe, dass ich nie Geld haben werde.
Verdammt! Ich werde unruhig und steigere mich rein, dass sie mich hier im Lokal nicht wollen, dabei gefällt es mir hier. Ich unterstelle, dass sich alle denken: „was will der alte Trottel hier!“ (auch ein Auswuchs der Selbstüberschätzung – der innere Kritiker). Ich werde bald gehen und die Stunde bis zwölf irgendwo draußen herumtanzen. Ein wenig will ich noch im Lokal standhalten. Oder ein anderes Café? Das Lokal ist voll und die Neuankömmlinge finden keinen Platz mehr: ich gehe.
11:09 a.m. Jetzt bin ich wirklich geflüchtet – nachdem ich mich beim Zahlen für meine rustikale Platzwahl entschuldigt habe – und sitze im Park hinter der Votivkirche, wo eine große Menge sterbender Nadelbäume an die Mauern gelehnt auf Weihnachten wartet. In Gedanken übe ich die Obdachlosigkeit (wieder so eine unechte Anmaßung! - der innere Kritiker) und ich stelle fest, dass es recht kalt ist. Kurz bin ich in die Votivkirche, aber dort habe ich es nicht ausgehalten, denn die mag ich überhaupt nicht. Zum Lokal ist noch zu sagen, dass viele Frauen dort sind; das Lokal ist bummvoll und darunter sind vier, höchstens fünf Männer, die alle in weiblicher Begleitung hereingekommen sind. Und das Ritual der kellnerischen Platzanweisung – ich mag es nicht. Wiewohl natürlich einiges dafür spricht, zumindest bei überlaufenen Lokalen. Ich bin dagegen, dass alle Bräuche aus Amerika oder Frankreich übernommen werden; es ist wieder ein Element, dass einem vorführt, dass man nicht bei sich ist, dass es nicht „unsere“ Welt ist, in der wir leben. Wieder ein Stück weniger Selbstverständlichkeit (die freilich meistens sehr fragwürdig ist). Das kommt mir doch wie ein Unterwerfungsritual vor (er unterwirft sich lieber ohne Anweisung, von sich aus – der innere Spötter).
Es ist kalt, ich werde besser herumgehen. So gehe ich jetzt im Kreis um die Votivkirche und steigere mich in selbstmitleidige Obdachlosigkeitsphantasien hinein. (Obwohl klar ist: ohne meine Frau wäre ich tatsächlich obdachlos. So weit ist das auch wieder nicht von meiner Realität entfernt. Ich denke auch an die ungeheizten Winter in der Denglergasse.)
Schluß jetzt!
(30.11.2024)
©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com
0 Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]
<< Startseite