3882 Aida
12:45. Ich wollte mich im Aida auf einen anderen Platz setzen, aber ein anderer Mann war schneller. Wo ich jetzt sitze, kann ich mich ein wenig im Spiegel sehen; aber ich kann nichts dafür! (Übrigens schreibe ich mit rosa Pilotstift.) Nebenan reden deutsche Touristen von den Zeiten, Fußball und Chagall. Die Passanten draußen vor den Fenstern bewegen sich wie auf vorgegeben Bahnen, auch wenn sie schlendern. Mir kommt das ballettartig vor, aber meine Wahrnehmung scheint alles unter dem Gesichtspunkt Starre und Bewegung aufzunehmen und zusammenzufassen: ich sehe vor einer unbewegten Welt lauter sich bewegende Objekte, die einer vorgegebenen Choreographie folgen und es gefällt mir, diese Szenerie als Theaterstück zu lesen. Dass sie hier nur Scheißzeitungen haben, stört mich, habe ich aber gewußt. Um mich im Spiegel zu sehen, muß ich mich etwas vorbeugen: ein alter Mann gafft heraus (das ist die reine Koketterie! Er bildet sich nämlich ein, jünger auszusehen, als es sein Alter nahelegt, und beim zweiten Mal hinschauen gelingt es ihm auch, sich so wahrzunehmen. Nicht so wie beim ersten Blick, wo er alt ausgesehen hat - der innere Spötter). Zwei der Balletteusen draußen vom Straßentheater stehen nebeneinander mit gesenkten Häuptern da und schauen in ihre Handys. Was für eine dichte, aussagekräftige Szene! Sie wissen nichts, stehen in der Welt und sehen nichts! (Jetzt bläst er sich wieder auf: und er? Sieht er was? - der innere Spötter.) In meinem Inneren rede ich mit den älteren Franzosen zwei Tische weiter und sage ihnen Maitre Corbeau, sur un abre perché … auf (soweit er es überhaupt noch hinbekommt – der innere Spötter). Überhaupt eher ältere Damen und Herren hier. Ich spiele doch diese Kaffeehaussitzerei bloß nach! Das ist doch alles nur Camouflage! Ich verkleide mich als Kaffeehausliterat (im Aida! - der innere Spötter). Egal in welchem Kaffeehaus. Und hier könnte ich doch auch in ernsthafter Arbeit die vorhandenen Krawallmedien lesen und kommentieren.
Ich bin zu nervös. Es sind einige hier, die auch bei nur einem Kaffee sitzen und sogar in Büchern lesen. Aber mir hilft das nichts: ich fühle mich überall schuldig.
(27.11.2024)
©Peter Alois Rumpf November 2024 peteraloisrumpf@gmail.com
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