2693 L'amour est bleu
Die Möwe schaukelt für mich mein Bewußtsein in den Tag. Die
Katze, die auf meinem Schreibtisch schläft und immer sofort merkt, wenn ich
aufwache und die Augen aufschlage, erhebt sich und schaut mich fragend an, ob
sie zu mir schmusen kommen darf. Ich sage ja und unterbreche das Schreiben. Sie
versteht mich fast immer und kommt. Ihr Schnurren übertönt das Surren in meinen
Ohren.
Ich ordne in Gedanken meinen Tag. Ein Großeinkauf beim Hofer
scheint die aufregendste Herausforderung des Tages zu werden; ich halte dort
den Trubel und die Enge schwer aus, und die von den Kunden (und mir?)
mitgebrachte gierige und raffende Atmosphäre. Das Personal dort ist jedoch
erstaunlich gelassen, ruhig, professionell und kompetent. Ich werde es
überstehen.
Ich zögere mit dem Aufstehen, weil ich mir Rasieren und Duschen
vorgeschrieben habe; auch ein kleiner Berg, den ich erst mental überwinden muß.
Ja, die Depression ist ein Hund. Ich bin jetzt ja ganz zufrieden
da im Bett und glücklich, aber will nicht hinaus in die Welt, wo ich mich
ständig überfordert fühle und unfähig. Wenn ich dann zum Beispiel einkaufen
gehe, ergibt das im besten Fall eine clowneske, kasperlhafte Performance, wenn ich
beim Hofer meinen Mut zusammennehme und den Mann auf der
Bodenreinigungsmaschine frage, wo der Mozzarella ist, weil ich ihn schon
minutenlang vergeblich gesucht habe, x-mal am Regal hin und her und oben und
unten, und er dann die Maschine stoppt, absteigt und mir zeigt, dass er direkt
vor meiner Nase im Regal liegt. Ich sage dann: „In Wien nennt man das
schaasaugert“ und wir lachen und ich sage noch: „Gottseidank haben wir im
Wienerischen ein paar kräftige Ausdrücke“ und er dann lächelnd „ja“ sagt. Ich bin
dann über die Kommunikation sehr glücklich und freue mich wirklich, dass ich
den sanften Trottel gespielt habe und nicht beschimpft wurde.
Die Tagis unten sind schon schlafen gegangen: also wird das
ein Frühstück ohne Kaffee, weil die Kaffeemaschine zu laut mahlt. Ich wüßte
nicht, wie ich deren Geräusch lautmalerisch transkripieren könnt'! Nachdem ich
das geschrieben habe, habe ich das Gefühl, etwas geleistet zu haben, um
aufstehen, frühstücken und mich der Welt zeigen zu dürfen. Dieser kleine
lautmalerische Scherz, der vielleicht jemandem irgendwann und wenn in hundert
Jahren ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern kann, ist die Anzahlung für den
Tagessatz an meine unsichtbaren Schutzgelderpresser, sodass ich die Chance
habe, den Tag wenigstens als Selbsterniedrigungsclown zu überstehen und nicht
derschlagen oder die Stiegen hinuntergestoßen zu werden. So schaut's in meinem
Inneren aus! Meine Depression ist im
Kern nichts anderes als das unsägliche, zutiefst verankerte Gefühl der eigenen
Wertlosigkeit. Und unter Singen des Refrains von „bleu, bleu, l'amour est
bleu“, das in mir einfach so aufgestiegen ist, ohne woher und warum, stehe ich
auf und gehe ins Badezimmer.
(13.5.2022)
©Peter Alois Rumpf Mai 2022
peteraloisrumpf@gmail.com
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