Freitag, 13. Mai 2022

2693 L'amour est bleu

 

Die Möwe schaukelt für mich mein Bewußtsein in den Tag. Die Katze, die auf meinem Schreibtisch schläft und immer sofort merkt, wenn ich aufwache und die Augen aufschlage, erhebt sich und schaut mich fragend an, ob sie zu mir schmusen kommen darf. Ich sage ja und unterbreche das Schreiben. Sie versteht mich fast immer und kommt. Ihr Schnurren übertönt das Surren in meinen Ohren.

Ich ordne in Gedanken meinen Tag. Ein Großeinkauf beim Hofer scheint die aufregendste Herausforderung des Tages zu werden; ich halte dort den Trubel und die Enge schwer aus, und die von den Kunden (und mir?) mitgebrachte gierige und raffende Atmosphäre. Das Personal dort ist jedoch erstaunlich gelassen, ruhig, professionell und kompetent. Ich werde es überstehen.

Ich zögere mit dem Aufstehen, weil ich mir Rasieren und Duschen vorgeschrieben habe; auch ein kleiner Berg, den ich erst mental überwinden muß.

Ja, die Depression ist ein Hund. Ich bin jetzt ja ganz zufrieden da im Bett und glücklich, aber will nicht hinaus in die Welt, wo ich mich ständig überfordert fühle und unfähig. Wenn ich dann zum Beispiel einkaufen gehe, ergibt das im besten Fall eine clowneske, kasperlhafte Performance, wenn ich beim Hofer meinen Mut zusammennehme und den Mann auf der Bodenreinigungsmaschine frage, wo der Mozzarella ist, weil ich ihn schon minutenlang vergeblich gesucht habe, x-mal am Regal hin und her und oben und unten, und er dann die Maschine stoppt, absteigt und mir zeigt, dass er direkt vor meiner Nase im Regal liegt. Ich sage dann: „In Wien nennt man das schaasaugert“ und wir lachen und ich sage noch: „Gottseidank haben wir im Wienerischen ein paar kräftige Ausdrücke“ und er dann lächelnd „ja“ sagt. Ich bin dann über die Kommunikation sehr glücklich und freue mich wirklich, dass ich den sanften Trottel gespielt habe und nicht beschimpft wurde.

Die Tagis unten sind schon schlafen gegangen: also wird das ein Frühstück ohne Kaffee, weil die Kaffeemaschine zu laut mahlt. Ich wüßte nicht, wie ich deren Geräusch lautmalerisch transkripieren könnt'! Nachdem ich das geschrieben habe, habe ich das Gefühl, etwas geleistet zu haben, um aufstehen, frühstücken und mich der Welt zeigen zu dürfen. Dieser kleine lautmalerische Scherz, der vielleicht jemandem irgendwann und wenn in hundert Jahren ein Schmunzeln ins Gesicht zaubern kann, ist die Anzahlung für den Tagessatz an meine unsichtbaren Schutzgelderpresser, sodass ich die Chance habe, den Tag wenigstens als Selbsterniedrigungsclown zu überstehen und nicht derschlagen oder die Stiegen hinuntergestoßen zu werden. So schaut's in meinem Inneren aus!  Meine Depression ist im Kern nichts anderes als das unsägliche, zutiefst verankerte Gefühl der eigenen Wertlosigkeit. Und unter Singen des Refrains von „bleu, bleu, l'amour est bleu“, das in mir einfach so aufgestiegen ist, ohne woher und warum, stehe ich auf und gehe ins Badezimmer.

 

(13.5.2022)

©Peter Alois Rumpf  Mai 2022   peteraloisrumpf@gmail.com

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite