Montag, 20. September 2010

64 Der innere Seher ?

Das ist schon alles Jahrzehnte her. Damals versuchte ich – von der Vorstellung getragen, ein Künstler zu sein - ein eher bohemienhaftes Leben zu führen. Das heißt, ich ging spät schlafen und stand sehr spät auf. Ich wohnte in einem sehr hellen Atelier, die Sonne brannte im Sommer so stark herein, daß das Fieberthermometer, das im einzigen schattigen Bereich, nämlich in der Kochnische, lag, Maximaltemperatur anzeigte. Bei Regen regnete es herein und ich hatte Kübeln und Schüsseln aufgestellt, um das Wasser aufzufangen. Im Winter fror das Kondenswasser an der Innenseite des riesigen Atelierfensters ein. Alles so wie man sich das Leben eines armen Künstlers vorstellt.
Gleichzeitig hatte ich die fixe Idee, möglichst viele meiner Träume aufzuschreiben – sie sollten meine künstlerische Arbeit inspirieren – und das gelang mir ganz gut. Ich wachte oft auf, meistens war es schon hell, und ich schrieb schnell den gerade erlebten Traum in ein Heft, das immer aufgeschlagen und mit Kugelschreiber neben der Matratze am Boden bereit lag. Ich gewann dabei solche Übung, daß ich oft gar nicht mehr richtig wach wurde, sondern im Halbschlaf den Traum hinkritzelte, mich umdrehte und weiterschlief und beim richtigen Aufwachen überrascht war zu lesen, was ich in der Nacht für einen Traum hatte.
Einmal träumte ich wieder, aber ich sah oder erlebte keine Traumszene, sondern war nur in einem roten Licht. Dann aber geschah etwas Großartiges: eine richtige Erleuchtung! In mir stieg der Satz ins Bewußtsein auf, der mein ganzes Leben erklärt! Ich war ja suchend und orientierungslos, kam mit dem Leben nicht zurecht, wußte nicht woher und wohin, konnte meinen Platz in der Welt nicht finden und deshalb auch nicht behaupten und war schon eher Richtung Selbstzerstörung unterwegs. Und jetzt der Satz, der alles erklärt, der mir Sinn und Richtung gibt, der alle meinen verzweifelten Fragen beantwortet, der Schlüsselsatz, mit dem sich mein innerer verborgener Schatz finden und öffnen lässt, der Satz, mit dem sich endlich der Weg aus dem Dilemma ins Offene finden lässt. Dieser Satz! Und ich wußte im Traum genau von der Bedeutung und Tragweite dieses Satzes und tatsächlich gelang es mir, mich im Halbschlaf zum Heft rüberzubeugen und diesen wichtigsten Satz meines Lebens aufzuschreiben. Dann habe ich mich umgedreht und weitergeschlafen.
Als ich dann morgens – es wird gegen Mittag gewesen sein – so langsam aufwache und in die Sonne blinzle, fällt mir plötzlich ein: der Satz! Der Satz, der mein Leben rettet! Den Satz selber hatte ich vergessen, aber ich wußte, daß er mir geoffenbart wurde und daß ich ihn aufgeschrieben hatte. Jetzt war ich gleichzeitig total verschlafen und komplett hellwach, die Augen weit aufgerissen und zugleich verpickt. Ich greife aufgeregt und mit zitternden Händen zum Traumheft – die Sonne blendet mich, mein Herz klopft ganz stark, in den Augen Tränen und noch verklebt - und versuche den Satz, den Satz! zu lesen, ich kann das verschlafene Gekritzel kaum entziffern, endlich gelingt es mir. Im Heft steht: „Ich bin ein so ein Idiot!“


©Peter Rumpf 2010 peter_rumpf_at@yahoo.de

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