Donnerstag, 13. Mai 2010

60 Kerzen

Seit einigen Jahren sieht man in Kirchen fast nur mehr unechte Altarkerzen – ich glaube mit Gas gefüllt. Sie sind einfacher zu entzünden, brennen konstanter, müssen nur nachgeladen, aber nicht ausgetauscht werden, sie werden nicht weich und schief und sie werden nicht kleiner und machen keine Wachsflecken. Sehr vernünftig, sehr rationell, sehr sauber, perfekt. Das genau ist das Problem. Genau das ist die Lüge. Das ist nämlich die Zerstörung des Bildes der Kerze als Gleichnis für den Menschen, seine Seele und sein Leben.
In einigen Sagen und Märchen - wie zum Beispiel in „Gevatter Tod“ - werden dem Sehenden die Menschen als brennende Kerzen gezeigt (siehe unten). Der Münchner Astrologe Wolfgang Döbereiner sagt, daß alle irdischen Vorgänge Verbrennungsvorgänge sind und auch bei Castaneda erscheint dem Sehenden die Welt als ein Universum leuchtender Energie.
Die niederbrennende Kerze wurde zum Gleichnis für das Menschenleben mit der immer weniger werdenden Lebenszeit; die Kerze ist manchmal schwer zu entzünden, löscht bei Wind leicht aus – so wie das Leben immer gefährdet ist. Und die Kerze macht Wachsflecken – so wie auch der Mensch nicht ohne „Flecken“ durchs Leben kommt.
Das muß alle Perfektionisten furchtbar stören, denn die brennende Kerze erinnert sie an ihr Gefährdetsein, an ihre Fehlerhaftigkeit, an ihre Sterblichkeit. Offensichtlich muß es viele Perfektionisten in der Kirche geben, sonst wären nicht alle echten Kerzen durch verlogene Imitate – die noch dazu wie echte Kerzen ausschauen sollen – ersetzt worden. Diese Perfektionisten halten Unsauberkeit und Endlichkeit nicht aus und zerstören Anschaulichkeit und Kraft des Gleichnisses, das ja ohne jede pädagogische Indoktrinierung und Belästigung, allein durch Anschaung wirken kann. Intuitiv erfasst jedes Kind dieses Gleichnis der Kerze.
Das Gräßlichste dieser Art habe ich in Spanien gesehen, wo die Votivkerzen – also die Kerzen, die Gläubige vor einem Heiligenbild aus Andacht oder mit einem Anliegen selber entzünden – wo diese Votivkerzen durch elektrische Kerzen ersetzt wurden, die bei Münzeinwurf aufleuchten und noch dazu das Flackern der echten Kerzenflamme imitieren.
Da ist endgültig alles zerstört und man will in so eine Kirche gar nicht mehr hineingehen und den Kerzenautomaten zu betätigen – davor ekelt einem. Wer soll vor soetwas noch beten?

©Peter Rumpf 2010 peter_rumpf_at@yahoo.de


Ausschnitt aus dem Märchen „Gevatter Tod“ aus der Sammlung der Gebrüder Grimm (Hrsg. von Friedrich von der Leyen; Jena 1919; Seite 194):

Der Tod „packte ihn [einen Arzt, der das Patenkind des Todes war; P.R.] mit seiner eiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er wie tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, und andere brannten wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen.'Siehst du,' sprach der Tod, 'das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in den besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch auch Kinder und junge Leute haben oft nur ein kleines Lichtlein.' 'Zeige mir mein Lebenslicht,' sagte der Arzt und meinte es wäre noch recht groß. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte und sagte 'siehst du, da ist es.' ...“

0 Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Abonnieren Kommentare zum Post [Atom]

<< Startseite