887 Von ihren Listen streichen
Ich schaue auf die kleine Kreuzung hinaus. Herinnen, rechts
unter dem Tisch: ein schwarzer Hund; über dem Tisch: eine ältere Dame, die – so
hätte ich das gedeutet – mit einer jüngeren Frau mit osteuropäischem
Hintergrund – sicher bin ich mir nicht – doch eher aus dem Orient –
Konversation in Deutsch übt.
Draußen gehen viele Leute über die Kreuzung. In den
Gesichtern der Passantinnen (8. März!) kann ich nichts lesen. Am ehesten noch
eine gewisse Müdigkeit – aber das riecht nach Projektion, denn die seelische
Müdigkeit ist mir vertraut, auch wenn ich jetzt vom Kaffee gerade aufgeputscht
werde.
Ich will nicht alles hinschreiben, was ich da so mit meinem
G'schau mache, denn mein Blick hinter der schützenden Glasscheibe hervor – die
spiegelt von draußen gesehen wahrscheinlich - ist nicht immer ganz koscher –
gerade heute, am internationalen Frauentag.
Ich gebe zu – ein alter Mann, ein Raucher, steht am entspanntesten
von allen am Gehsteig und schaut aufmerksam herum. Ein junger, der über den
Zebrastreifen stapft, als zöge er in einen längst fälligen Kampf, auf einen
Vergeltungsschlag aus – aber der zu überfallende Stamm wohnt weit weg und
vielleicht wird den Kriegern der Weg zu mühsam und sie verlieren die
Kampfeslust und drehen wieder um (Beleg-Geschichte: Konflikte zwischen zwei
Stämmen irgendwo im Amazonas-dschungel, wo das immer wieder passieren kann –
alles Nähere vergessen) – und unser Krieger gestikuliert, seinen inneren Film
unterstützend.
Der alte Mann ist mit seiner Zigarette fertig und schaut
immer noch relativ entspannt herum – wenn auch um zwei Grade weniger. Kurz
blickt er auch zu mir, der ich hinter der Glasscheibe hinübergaffe, her. Hat er
gespürt, daß ich ihn beobachte?
Das flirtende Pärchen am Tisch vor mir lacht, die
vibrierende Spannung glaube ich herauszuhören.
Der alte Mann am Gehsteig telefoniert. (Wahrscheinlich würde
er sich dagegen wehren, als alter Mann bezeichnet zu werden, möglicherweise ist
er etwas jünger als ich.) Er wartet offensichtlich auf jemanden. Den Eindruck
hatte ich schon länger.
Neue Belegschaft am Nebentisch: er sagt: „es tut sich
nichts.“ Kommt darauf an, worauf wir achten.
Draußen über den Mauern der Straßenschlucht leuchtet ein
strahlend blauer, sonniger Himmel. Jetzt, wo der Kaffee schon richtig wirkt –
ich zittere bereits – sehe ich in den Gesichtern weniger Müdigkeit. Oh
Wahrnehmung! Was nimmst du dir da für Spielchen heraus!
Kopfbedeckungen können sehr lächerlich sein, besonders bei
Männern – ah! Ich korrigiere: auch bei Frauen – es gehen gerade zwei
Belegexemplarhüte vorbei – bei Männern also, denen ihre Frauen/Mütter die Kappe
aufgesetzt haben. (Da sollten sich die Frauen gleich auskennen und diejenigen
von ihren Listen streichen.)
Verdammt! Der alte Mann am Gehsteig ist weg! Vor lauter
Schreiberei habe ich mich ablenken lassen. Dabei hatte ich mir vorgenommen, ihn
nicht aus den Augen zu verlieren.
Eine junge Radfahrerin schaut mir auf meinem – koscheren! - Blick
im Vorbeifahren kurz in die Augen.
Ein etwas dicklicher – nicht dicker, vornüber gebeugter
Priester in Kutte, mit grünem Zingulum (das ist der Strick um den Leib, auch
das Gelübde der Keuschheit symbolisierend. Ein grünes Zingulum habe ich noch
nie gesehen) eilt mit krampfenden Kieferbewegungen die Straße hinauf (Richtung
Zentrum). Gerade vorher ist er genau so die Wollzeile hinuntergestolpert.
Zwei Zwillinge im Kinderwagen schauen uns im Kaffeehaus vom
Gehsteig draußen rundgesichtig staunend mit offenen Mündern an.
Jugend am Werk fährt vorbei.
Oh! der „alte“ Mann am Gehsteig ist wieder da und raucht
wieder. Vielleicht hat er Zigaretten gekauft. Jetzt lege ich den Griffel und
die Lesebrille hin und warte, war er macht. (Literarisch überhöhter Voyeurismus.)
Der komischen Mützen sind viele. (Obiger trägt seine Glatze
barhäuptig.)
(Frauenmantel mit als Blumenmuster getarntem militärischem Tarnmuster.)
Jetzt winkt der gar nicht so alte Mann am Gehsteig. Eine
junge Frau mit einem ungefähr zehn-, zwölfjährigen Buben kommt über die Straße
auf ihn zu. Sie könnten Tochter und Enkel sein. Sie gehen ab.
Ich auch. Ich werde jetzt auch abgehen. Ich werde zahlen,
dann meine Jacke anziehen, den Rucksack mit dem dann darin verstauten Notizbuch
samt Griffel schultern (naja, normal versteht frau (8.März) unter „schultern“
etwas etwas anderes. Probieren wir es einmal), meine Schirmkappe mit dem schon
etwas überdimensionierten Schirm aufsetzen und dann abgehen. (Er geht ab.)
(8.3.2018)
©Peter Alois Rumpf März
2018 peteraloisrumpf@gmail.com
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